Servicestelle Friedensbildung

Baden-Württemberg

 

NIGERIA

Eine Konfliktanalyse aus friedenspädagogischer Sicht

Konfliktanalysen - Arbeitsanregungen

Eine Konfliktanalyse ist ein wichtiges Mittel, um bewaffnete Konflikte zu verstehen und Friedensstrategien zu entwickeln. Um vielfältige Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die Konfliktanalysen in der praktischen Bildungsarbeit, ob in der Schule oder auch außerschulisch, eingesetzt werden können, hat die Servicestelle Friedensbildung drei unterschiedliche Anregungen mit konkreten Aufgaben zum Einsatz der Konfliktanalysen entwickelt. Diese haben jeweils einen eigenen Schwerpunkt:

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Konfliktanalysen - Lernposter

Wie kann man einen bewaffneten Konflikt oder Krieg mit einem Fokus auf Frieden analysieren? Mithilfe von Leitfragen, die vom Team der Servicestelle Friedensbildung entwickelt wurden, wird es erleichtert, einen tieferen Einblick in Konfliktsituationen zu gewinnen. Diese Leitfragen werden auf einem Lernposter in Illustrationen präsentiert, die dazu anregen, verschiedene Ansätze aus der Friedens- und Konfliktforschung anzuwenden. Sie laden dazu ein, vielfältige bestehende und mögliche Friedenspotenziale zu erforschen und zusammenzutragen. Das Poster hier zum Download:

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Wo? – Konfliktregion

Nigeria ist ein Staat in Westafrika. Flächenmäßig ist er ungefähr drei mal so groß wie Deutschland und mit rund 220 Millionen Einwohner:innen das mit Abstand bevölkerungsreichste Land Afrikas. Der Anteil der christlichen Bevölkerung liegt bei etwa 40 bis 45 Prozent, der Anteil der muslimischen Bevölkerung bei rund 50 Prozent.

Wer? – Konfliktparteien

In Nigeria liegt ein innerstaatlicher Konflikt mit mehreren Konfliktherden (z.B. Middle Belt, Niger Delta, Norden/Nordwesten) vor, wobei sich besonders der islamisch geprägte, wirtschaftlich schlechter gestellte Norden und der überwiegend christlich geprägte, wirtschaftlich aufstrebende Süden des Landes gegenüberstehen.

Im Norden entstanden durch Radikalisierung politisch-religiöser Gruppierungen zahlreiche kriminelle Banden, die Terrorgruppe „Boko Haram“ und der „Islamische Staat Provinz West­Afrika“.

Im Süden des Landes, m Nigerdelta, bildeten sich ebenfalls diverse Bürgerwehren und Terrorgruppen wie die „Niger Delta Avengers“ und die „Niger Delta Revolutionary Crusade“, welche sich ebenfalls gewaltvoll an Konflikten beteiligen.

Wann? – Zeittafel

1914–1960: Britische Kolonie

1960–1999: Mehrere Militärdiktaturen mit einigen demokratischen Umsturzversuchen des Militärs

1967–1970:  Biafra-Krieg zwischen der nigerianischen Regierung und der Volksgruppe der Igbo

1999: Beginn der „Vierten Republik“ mit demokratischen Reformen des politischen Systems
 
2009/2011: Eskalation der Konflikte nach Tötung des Boko Haram-Anführers durch staatliche Polizeibehörden und Wahl des christlichen Präsidenten Goodluck Jonathan

2023: Es kommt zu zahlreichen, gewaltvollen Auseinandersetzungen insbesondere um die Nutzung von Grund und Boden. Dabei werden hunderte Menschen getötet. So starben jüngst 400 Menschen im Konflikt zwischen Bäuer:innen und Hirt:innen im östlichen Bundesstaat Benue.

Wie? – Mittel der Konfliktaustragung

Die Konflikte in Nigeria werden vor allem mit den folgenden Mitteln ausgetragen: Viehdiebstahl, Brandschatzung, Erpressung, Kidnapping, Raubüberfälle, Vergewaltigungen, Auftrags- und Raubmorde, Zerstörung von Gebäuden (Kirchen, Moscheen, Bildungsstätten, Geschäften, Häusern).

Terrorgruppen setzen zudem auf (Bomben-)Angriffe, Selbstmordattentate, Bombardierungen und Zerstörung wichtiger Ölpipelines, Entführungen (z.B. Mitarbeiter:innen der großen Ölkonzerne), Erpressungen von Schutzzahlungen. Daher findet besonders im Norden des Landes vermehrt Selbstjustiz von einzelnen Bürgerwehren statt, die sich vom Staat allein gelassen fühlen und sich gegen den Terror einsetzen wollen.

Warum? – Erklärungen für den Konflikt

Ressourcenkonkurrenz und Korruption (ökonomischer Erklärungsansatz)

Nigeria ist unter anderem wegen seines Öl- und Gasreichtums die stärkste Volkswirtschaft auf dem afrikanischen Kontinent, doch die Spaltung zwischen Arm und Reich ist enorm. Der Rohstoffreichtum des Landes hat zu einer organisierten Plünderung des Staates geführt, was sich besonders stark bei der Erdölförderung im Niger Delta (Biafra-Region) bemerkbar macht. Dabei bereichern sich die politische und wirtschaftliche Elite sowie der korrupte Staatsapparat. Die dort lebende arme Bevölkerung leidet unter den Folgen der Erdölförderung (v.a. Umweltverschmutzung, schlechte lokale Infrastruktur). Außerdem treibt die aufstrebende Metropole Lagos Industrie und Wirtschaft in den Süden, auf den sich die Modernisierungsanstrengungen der Regierung zum Nachteil der nördlichen Regionen fokussieren. Des Weiteren entstehen zahlreiche Konflikte um die Nutzung von Grund und Boden, wenn muslimische, nomadische Hirten auf dem Weg zu Schlachthöfen in den Süden auf Gebiete (überwiegend) christlicher Landwirte stoßen. In diesen Landkonflikten sind insgesamt bisher mindestens sechsmal mehr Zivilist:innen als durch die Boko Haram-Angriffe ums Leben gekommen.

Fehlende politische Teilhabe und Repräsentation (machtbasierter Erklärungsansatz)

Die politische Macht ist in Nigeria trotz des föderalen Systems auf den Präsidenten konzentriert. Starke unabhängige Institutionen gibt es nicht, da es seit der Unabhängigkeit 1960 nicht gelungen ist, funktionierende staatliche Strukturen aufzubauen. Informelle Einigungen legen zwar fest, dass der Präsident im Wechsel einer der drei großen ethnischen Volksgruppen (den muslimischen Hausa/Fulani, den Yoruba und den christlichen Igbo) angehören muss, jedoch haben Minderheiten der 250 bis 400 kleineren Bevölkerungsgruppen in diesem System weder Mitspracherecht noch die Möglichkeit der Repräsentation. Das Gefühl, abgehängt zu sein, fördert organisierte Kriminalität und Radikalisierung.

Religiöse Spaltung und Instrumentalisierung (kultureller Erklärungsansatz)

Die Konflikte in Nigeria können vor dem Hintergrund wachsender Entfremdung zwischen den ethnischen Volksgruppen und besonders den zwei Hauptreligionen (Christentum und Islam) verstanden werden, da diese seit der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft nach Macht und Überlegenheit streben. In der südlichen Biafra-Provinz fühlen sich daher die dort lebenden christlichen Igbo von den muslimischen Hausa/Fulani des Nordens unterdrückt, weshalb sie 1967 ihre Unabhängigkeit ausrufen und so den Biafra-Krieg auslösen.

Außerdem steht der muslimisch geprägte Norden dem christlich geprägten Süden feindlich gegenüber, da der Norden überproportional unter den Folgen von Korruption und Misswirtschaft leidet, was islamistische Terrorgruppen wie Boko Haram ausnutzen. Sie werben für die Islamisierung des ganzen Landes (Verbreitung der Scharia-Gesetze), machen das Christentum im Süden für den Missstand verantwortlich und instrumentalisieren auf eine radikale Weise die muslimische Religion zum Zwecke des gewaltvollen Machterwerbs. Allerdings rufen Hassprediger beider Seiten zum Töten der jeweils anderen Religion bzw. Ethnie auf. Demnach scheinen die Konflikte häufig religiös aufgeladen zu sein, oftmals geht es ursächlich jedoch um Ressourcen- und Landverteilung.

Friedenspotenziale

Welche Friedensbemühungen gibt es bereits?

Zivilgesellschaftlich

Interreligiöse Friedensarbeit findet vor allem in der Zivilbevölkerung statt. Mehrere internationale Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben sich der interreligiösen Verständigung verschrieben, um Versöhnungsarbeit zu leisten, wie beispielsweise durch das PEACECORE-Projekt der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). PEACECORE beschäftigt sich mit Konflikttransformationsprozessen und will dezentrale Strukturen im Land aufbauen, um der Politik durch wenige Eliten entgegenzuwirken. Eine weitere zivilgesellschaftliche Friedensinitiative stellt das Interfaith Mediation Centre geleitet von einem christlichen und einem muslimischen Prediger dar. Die beiden Gründer haben sich die Versöhnung von Christ:innen und Muslim:innen durch die Herstellung des interreligiösen Dialogs zur gemeinsamen Suche nach Friedensansätzen (Workshops, gemeinsames Beten, Mediationen) zur Aufgabe gemacht. Das Centre for Peace Advancement in Nigeria (CEPAN) führt seit 2012 eine gemeinschaftsbasierte Initiative „Youth Platforms for Peace“ für jugendliche Anführer:innen oder Bandenmitglieder in besonders gewaltgefährdeten Brennpunktgemeinden durch. CEPAN unterstützt diese Jugendlichen bei der Entwicklung ihrer Dialog- und Interessenvertretungsfähigkeiten, um sie in die Lage zu versetzen, ihre Anliegen gegenüber lokalen Beamten, der Polizei und der Armee vorzubringen. Eine international bekannt gewordene Initiative war die #bringbackourgirls-Kampagne, welche von NGOs und Diaspora Organisationen unterstützt wurde und so die Regierung dazu brachte, entschlossener bei der Rettung der 279 von Boko Haram entführten Mädchen zu handeln.

 

Staatlich

Da die Regierung Nigerias zu den korruptesten weltweit gehört, sind ernsthafte staatliche Konfliktlösungsbestrebungen oder funktionierende Lösungen schwer zu finden. Nach den Eskalationen im Middle Belt 2001, 2008, 2010 wurden beispielsweise die Special Task Force aus Militär und Polizei, gerichtliche Ermittlungsausschüsse und die „Operation Rainbow“ eingerichtet. Sie waren jedoch wenig erfolgreich. Des Weiteren wurde von der Regierung durch eine Richtlinie verordnet, die (finanzielle) Unterstützung von NGOs zum Wiederaufbau der Konfliktgebiete vom Süden in den Norden/Nordosten zu verlagern. Der amtierende Präsident Muhammadu Buhari versucht in erster Linie, Versöhnung durch strukturelle Reformen voranzutreiben, wie beispielsweise durch das sogenannte "Rural Grazing Area“-Siedlungsprogramm für die Minderung der andauernden Konflikte zwischen Landwirten und Hirten. Allerdings zielt dieser Vorschlag in erster Linie darauf ab, Gebiete für die Rinderherden der Fulani-Hirten im ganzen Land zu schaffen. Dieses Programm wird von 70% der Bevölkerung vehement abgelehnt, weil sie darin eine existenzielle Bedrohung für die (überwiegend) christlichen, sesshaften Landwirte, den Säkularismus und die nationale Sicherheit sehen.

Welche Friedensansätze werden diskutiert?

Da die Aktivitäten von Terrorgruppen wie Boko Haram von einigen eher als Symptom denn als Ursache für die Missstände und Konflikte im Land gesehen werden, wird vielfach gefordert, dass noch stärker strukturelle Reformen als nachhaltige Lösungsansätze herangezogen werden zur:

  • Bildung und Stärkung unabhängiger Institutionen,
  • Gewaltenteilung und Schaffung einer unabhängigen Justiz,
  • Reform im sicherheitspolitischen Sektor und in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, v.a. im Kampf gegen Korruption,
  • gleichberechtigten politischen Mitbestimmung aller ethnischen Gruppen.

 

Konfliktzwiebeln

Konfliktpartei: Muslimische Bevölkerungsgruppen

Positionen
-    Anspruch auf fruchtbaren Boden und Wasser aufgrund von Trockenheit im Norden
Interessen
-    Vormachtstellung gegenüber den christlichen Bevölkerungsgruppen
-    politische Teilhabe
-    Teilhabe Ressourcenreichtum
Bedürfnisse
-    soziale Gerechtigkeit
-    Ernährungssicherheit

 

Arbeitsblatt Konfliktzwiebel (leer)

Arbeitsblatt Konfliktzwiebel Nigeria Muslimische Bevölkerungsgruppen (ausgefüllt)

Konfliktpartei: Christliche Bevölkerungsgruppen

Positionen
-    müssen Besitz gegenüber nomadischen Hirten verteidigen
-    Es braucht sicherheitspolitische Stabilität und innere Sicherheit
Interessen
-    Status Quo Erhaltung und wirtschaftliche Vormachtstellung
-    Kontrolle ressourcenreicher Gebiete
-    Wirtschaftliches Wachstum
Bedürfnisse
-    Sicherheit und Kontrolle

 

Arbeitsblatt Konfliktzwiebel (leer)

Arbeitsblatt Konfliktzwiebel Nigeria Christliche Bevölkerungsgruppen (ausgefüllt)

Konfliktbaum

Konfliktbaum Nigeria

Effekte und Auswirkungen

-    mind. 3 Mio. Binnenflüchtlinge
-    mind. 3 Mio. Tote
-    extreme Armut
-    starkes wirtschaftliches und soziales Nord-Süd-Gefälle
-    (besonders Jugend-) Arbeitslosigkeit
-    hohes Radikalisierungspotenzial
-    hohes Gewaltniveau und erhöhtes Level an organisierter Kriminalität
-    Umweltschäden
-    religiöser Extremismus
-    Terrorismus
-    staatliche Willkür und Korruption

Kernproblem: schwache staatliche Institutionen; ungerechte Verteilung des Weidelandes und der Ressourcen(erlöse)

Konfliktursachen

-    Misstrauen der nigerianischen Gesellschaft gegenüber politischen Eliten
-    Spaltung des Landes
-    strukturelle Entwicklungsunterschiede zwischen Norden und Süden
-    koloniale Grenzziehung
-    Korruption und Misswirtschaft
-    Missbrauch von Religion

(vgl. Fisher et al., 2000: 29)

Arbeitsblatt Konfliktbaum (leer)

Arbeitsblatt Konfliktbaum Nigeria (ausgefüllt)

 


 

Literatur und Quellen

Karten

  • Karte 1: Landkarte Nigeria. The World Factbook 2021. Washington, DC: Central Intelligence Agency, 2021
  • Karte 2: Lagekarte Nigeria. The World Factbook 2021. Washington, DC: Central Intelligence Agency, 2021
  • Karte 3: Nigeria.  mr-kartographie / Bundeszentrale für politische Bildung 2021 | cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Foto-Reportage über ein Friedensprojekt in Nigeria

In Nigeria spielt Religion eine große Rolle. Rache aber   auch:   Die   Menschen   töten   für   ihren Glauben. Auch James und Ashafa waren früher Erzfeinde. Jetzt arbeiten sie zusammen für den Frieden.   Die   Geschichte   einer   dramatischen Versöhnung.

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