Servicestelle Friedensbildung

Baden-Württemberg

 

NORDIRLAND

Eine Konfliktanalyse aus friedenspädagogischer Sicht

Konfliktanalysen - Arbeitsanregungen

Eine Konfliktanalyse ist ein wichtiges Mittel, um bewaffnete Konflikte zu verstehen und Friedensstrategien zu entwickeln. Um vielfältige Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die Konfliktanalysen in der praktischen Bildungsarbeit, ob in der Schule oder auch außerschulisch, eingesetzt werden können, hat die Servicestelle Friedensbildung drei unterschiedliche Anregungen mit konkreten Aufgaben zum Einsatz der Konfliktanalysen entwickelt. Diese haben jeweils einen eigenen Schwerpunkt:

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Konfliktanalysen - Lernposter

Wie kann man einen bewaffneten Konflikt oder Krieg mit einem Fokus auf Frieden analysieren? Mithilfe von Leitfragen, die vom Team der Servicestelle Friedensbildung entwickelt wurden, wird es erleichtert, einen tieferen Einblick in Konfliktsituationen zu gewinnen. Diese Leitfragen werden auf einem Lernposter in Illustrationen präsentiert, die dazu anregen, verschiedene Ansätze aus der Friedens- und Konfliktforschung anzuwenden. Sie laden dazu ein, vielfältige bestehende und mögliche Friedenspotenziale zu erforschen und zusammenzutragen. Das Poster hier zum Download:

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Wo? – Konfliktregion

Nordirland ist ein Teil des „Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland“, so wie auch England, Schottland und Wales. Der Landesteil liegt auf der Nachbarinsel Irland. Von der Fläche her ist Nordirland knapp halb so groß wie Baden-Württemberg. Nordirland hat knapp 2 Millionen Einwohner:innen, je ungefähr zur Hälfte Katholik:innen und Protestant:innen.

Wer? – Konfliktparteien

Der Nordirlandkonflikt ist ein innerstaatlicher Konflikt zwischen verschiedenen Gruppierungen und Organisationen, die sich weitestgehend in zwei Konfliktparteien unterteilen lassen. Auf der einen Seite die überwiegend katholischen Republikaner:innen bzw. Nationalist:innen, auf der anderen Seite die überwiegend protestantischen Unionist:innen bzw. Loyalist:innen und die mehrheitlich durch sie besetzte Regierung.

Wann? – Zeittafel

1919-1922: Der Unabhängigkeitskrieg katholisch-irischer Nationalist:innen gegen die protestantisch-britische Besatzungsmacht führt zur Teilung der Insel und der Gründung eines protestantisch dominierten Nordirlands.

1967: Formierung einer katholisch-nationalistischen Bürgerrechtsbewegung gegen die diskriminierenden Politiken der protestantischen Regierung. Die Demonstrationen der Bürgerrechtler:innen treffen auf Widerstand vonseiten protestantischer Unionist:innen.

1969: Beginn des Bürgerkriegs zwischen der paramilitärischen „Irish Republican Army“ (IRA) und der britischen Armee sowie protestantisch-unionistischen paramilitärischen Gruppierungen.

10.04.1998: Die Unterzeichnung des Karfreitagsabkommen zwischen den Konfliktparteien führt zu einem Waffenstillstand und dem formalen Ende des Bürgerkriegs, der nach offiziellen Schätzungen 3.600 Tote forderte.

Seit 2016: Spannungen durch den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union („Brexit“) und teils alte Konfliktlinien führen erneut zu Ausschreitungen, 2019 wird bei Straßenunruhen eine Journalistin durch die „New IRA“ erschossen. In den Wahlen zum nordirischen Parlament 2022 gewinnt mit Sinn Féin erstmals eine republikanische Partei die meisten Sitze und ist fortan stärkste Partei.

Wie? – Mittel der Konfliktaustragung

Auf beiden Seiten formieren sich vor und während des bewaffneten Konfliktes paramilitärische Organisationen. Die IRA aufseiten der katholischen Republikaner:innen verübt Bombenanschläge und Überfälle, setzt Sprengsätze ein, es kommt zu Geiselnahmen und dem gezietlten Erschießen von Polizist:innen und britischen Soldat:innen. Aufseiten der protestantisch-unionistischen Seite kämpfen paramilitärische Organisationen wie die Ulster Volunteer Force (UVF) mit ähnlichen Mitteln gegen die Republikaner:innen. Opfer der insgesamt 16.200 Anschläge und 22.000 bewaffneten Überfälle sind oftmals Zivilist:innen. Die britische Armee, die von Großbritannien zur Deeskalation der Lage eingesetzt wird, ist auf der einen Seite Ziel von Anschlägen der IRA. Auf der anderen Seite geht die britische Armee ihrerseits mit Waffengewalt gegen die IRA und die nationalistische Bürgerrechtsbewegung vor, beispielsweise am sogenannten Bloody Sunday, an dem britische Fallschirmjäger:innen 13 Demonstrant:innen erschießen. Mit Masseninhaftierungen, dem Verbot von Kundgebungen und letztlich der Auflösung des nordirischen Parlaments versuchen Großbritannien und die britische Armee, die Straßenkämpfe und terroristischen Akte zu unterbinden. Insgesamt wird jeder zwanzigste in Nordirland während des Bürgerkrieges verletzt.

Warum? – Erklärungen für den Konflikt

Nationalismus (kultureller Erklärungsansatz)

Schon in den Jahrhunderten vor der Teilung Irlands entwickeln sich auf der irischen Insel zwei unterschiedliche kulturelle Identitäten. Auf der einen Seite die katholisch geprägten Ir:innen, auf der anderen Seite die protestantischen Brit:innen, die seit dem 12. Jahrhundert die irische Insel besiedeln und diese letztlich kolonisieren. Nach der Teilung Irlands erstarkt in den katholischen Bevölkerungsteilen Nordirlands das schon lange Zeit bestehende Streben nach irischer Unabhängigkeit und einem vereinten Irland ohne den Einfluss Großbritanniens. Es geht also mehr um die national-kulturelle Identität als um die konfessionelle Zugehörigkeit. So fühlen sich einerseits die katholischen Ir:innen bis heute in ihrer nationalen Identität durch die protestantischen Unionist:innen bedroht. Andererseits sehen die protestantischen Unionist:innen ihre britische Identität durch die nationalistischen Bestrebungen der katholisch-republikanischen Bevölkerungsteile gefährdet und beharren auf die Bindung Nordirlands an Großbritannien.

Ungleichheit und Diskriminierung (machtbasierter Erklärungsansatz)

Seit 1922 wird in Nordirland die katholisch-irische Minderheit zunehmend von der protestantisch dominierten Regierung und der ebenfalls weitestgehend protestantischen Polizei strukturell diskriminiert und benachteiligt. Daraus resultiert die Erstarkung und Radikalisierung nationalistischer Bestrebungen im katholisch-republikanischen Lager, was wiederum die Furcht vor dem Verlust von Einfluss und Machtpositionen aufseiten Großbritanniens und der protestantisch-unionistischen Bevölkerungsteile Nordirlands schürt. Im Nordirlandkonflikt geht es daher nicht nur um die Verteidigung der eigenen Identität, sondern auch um Herrschaftsverhältnisse, Souveränität, politische Selbstbestimmung und Macht. Auch der ungleiche Zugang zum Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Ungleichheit gelten als wichtige Ursachen für den Konflikt.

Friedenspotenziale

Welche Friedensbemühungen gibt es bereits?

Der in den 1990ern eingeleitete Friedensprozess ist einerseits maßgeblich auf zivilgesellschaftliche Bewegungen, insbesondere Frauenbewegungen, andererseits auf die Anstrengungen politischer Akteur:innen unter der Führung der irischen und britischen Regierung zurückzuführen.

Im Karfreitagsabkommen 1998 einigen sich die IRA und die anderen Konfliktparteien gemeinsam auf ein Ende der Waffengewalt, auf die Anerkennung der jeweils anderen Seite und auf ein konkordanzdemokratisches System, das allen Konfliktparteien Teilhabe an der Gesetzgebungs- und Regierungsgewalt garantiert.

Die Entwaffnung der paramilitärischen Gruppierungen, die Reformierung der Polizei und die Etablierung demokratischer Strukturen gelingt auch durch den Einsatz der irischen und britischen Regierung, einer internationalen Kommission und durch die Unterstützung der EU, die u.a. Versöhnungsprogramme initiiert und mitfinanziert. Allerdings kann in Nordirland nach wie vor lediglich von einem „kalten Frieden“ gesprochen werden, in dem einerseits das Gewaltniveau maßgeblich durch staatliches und internationales Engagement abgenommen hat. Andererseits wird der Krieg in der Gesellschaft unzureichend aufgearbeitet, sodass die alten Gräben zwischen den Konfliktparteien nach wie vor bestehen. Diese äußern sich in Gewaltausbrüchen, protestantischen Paraden in Gedenken an historische Siege über die Katholiken, dem Hissen der eigenen oder dem Verbrennen der anderen Flagge und der konfessionellen Spaltung im Bildungswesen. Die „Peace-Walls“, bei welchen es sich um Mauern handelt, die protestantisch-unionistische von katholisch-republikanischen Stadtgebieten trennen, sind einerseits Teil der Lösung zur Eindämmung von Gewalt, andererseits Symbol für das anhaltende Konfliktpotenzial.

 

Welche Friedensansätze werden diskutiert?

Da der Einsatz von Gewalt weitestgehend eingedämmt werden konnte, sind es insbesondere die zahlreichen Initiativen und Organisationen auf Graswurzelebene, die mit ihrer Arbeit versuchen, andere Friedensansätze anzuwenden und die bestehende Spaltung der Gesellschaft aufzubrechen. Zentrale Schwerpunkte stellen dabei die Themen Versöhnung, Dialog und Bildung dar. Organisationen wie das Jugendzentrum „Forthspring Inter Community Group“, die Nachbarschaftshilfe „South Belfast Partnership Board“ oder das Versöhnungszentrum „Corrymeela“ initiieren zahlreiche Projekte, die Raum für Dialog und Begegnung schaffen. Sie reichen von Bildungsangeboten für Kinder beider Konfessionen über Konfliktberatung, politische Gespräche zwischen verfeindeten Gruppen bis hin zu gemeinsamen Gartenprojekten. Kirchen und kirchliche Organisationen verstärken zuweilen die alten Konfliktlinien, doch sind auch Teile beider Konfessionen engagiert, durch ökumenische Gottesdienste, Bildungsarbeit und Freiwilligendienste die bestehenden Gräben zu überwinden. Andere Organisationen haben sich der Traumata-Bearbeitung und der Gewährleistung der Einhaltung von Menschenrechten in Nordirland verschrieben. Auch arbeiten ehemalige Kombattant:innen in der Jugendarbeit, um Kinder und Jugendliche für das Thema zu sensibilisieren und die Konsequenzen des Bürgerkrieges aufzuzeigen.

Diskutiert wird auf politischer Ebene zudem die Entschädigung von Opfern direkter Gewalt sowie der Umgang mit Täter:innen. Der Herausforderung des Brexits und der Gefahr einer harten Grenze zwischen dem EU-Land Irland und Nordirland soll mithilfe des Nordirland-Protokolls begegnet werden, das stationäre Grenzkontrollen zwischen den beiden Ländern verhindern soll. Der Konflikt um das Nordirland-Protokoll zwischen der EU und der britischen Regierung dauert an und schürt die Sorgen vor einer erneuten Eskalation des alten Konflikts in Nordirland.

Konfliktzwiebeln

Konfliktpartei: Protestantisch-unionistische Seite

Positionen
-    Nordirland ist Teil Großbritanniens
Interessen
-    wirtschaftliche Vorteile durch Verbindung zu GB
-    Erhalt von politischer Macht
Bedürfnisse
-    Erhalt britischer Identität
-    Sicherheit und Schutz vor Gewalt

 

Arbeitsblatt Konfliktzwiebel (leer)

Arbeitsblatt Konfliktzwiebel Protestantisch-unionistische Seite (ausgefüllt)

Konfliktpartei: Katholisch-republikanische Seite (IRA)

Positionen
-    Einfluss Großbritanniens in Nordirland soll beendet werden
-    Nordirland und Irland sollen wiedervereint werden
Interessen
-    Souveränität und Unabhängigkeit von Großbritannien
-    politische Selbstbestimmung und Macht
-    wirtschaftliche Gleichheit
-    gleicher Zugang zum Arbeitsmarkt
Bedürfnisse
-    Anerkennung und Erhalt der irischen Identität
-    Gleichberechtigung
-    Sicherheit

 

Arbeitsblatt Konfliktzwiebel (leer)

Arbeitsblatt Konfliktzwiebel Katholisch-republikanische Seite (ausgefüllt)

Konfliktbaum

Konfliktbaum Nordirland

Effekte und Auswirkungen

-    Gewaltspirale
-    Hass auf die andere Seite
-    Tötung von Zivilst:innen
-    bis heute anhaltendes Misstrauen
-    sinkende Dialog- und Kompromissbereitschaft
-    "vererbte" Traumata in Familien und Gemeinschaften

Kernproblem: gegensätzliche Verständnisse von nationaler Identität und Souveränität

Konfliktursachen

-    Kolonialisierung Irlands durch Großbritannien
-    diskriminierende Gesetze
-    Ungleichgewicht bei Wohlstand und politischer Teilhabe
-    polizeiliche Repressalien
-    Nationalismus

(vgl. Fisher et al., 2000: 29)

Arbeitsblatt Konfliktbaum (leer)

Arbeitsblatt Konfliktbaum Nordirland (ausgefüllt)

 


 

Literatur und Quellen

  • Bundeszentrale für politische Bildung (2020): Nordirland
  • Fenton, Shioban (2018): The Good Friday Agreement, London: Biteback Publishing.
  • Fitzduff, Mary (2002): Beyond violence: Conflict Resolution Processes in Northern Ireland, UN University Press.
  • Kandel, Johannes (2005): Der Nordirland-Konflikt. Von seinen historischen Wurzeln bis zur Gegenwart, Bonn: Dietz.
  • Hancock, Landon (2014): Narratives of Identity in the Northern Irish Troubles, in: Peace & Change, Jg. 14, Nr. 4, S. 599-617.
  • McKittrick, David; McVea, David (2002): Making Sense of the Troubles. A History of the Northern Ireland Conflict, London: Penguin.
  • Moltmann, Bernhard (2005): Dem Frieden verschrieben – dem Konflikt verhaftet. Zur Rolle der Kirchen im nordirischen Friedensprozess, Frankfurt: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Report Nr. 5/2005.
  • Moltmann, Bernhard (2011): Friedensprozesse. Im Krieg mit dem Frieden beginnen. Das Beispiel von Nordirland, in: Berthold Meyer (Hrsg.), Konfliktregelung und Friedensstrategien, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 163-182.
  • Moltmann, Bernhard (2017): Nordirland. Das Ende vom Lied? Der Friedensprozess und der Brexit, Frankfurt: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Report Nr. 4/2017.

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