Servicestelle Friedensbildung

Baden-Württemberg

 

UKRAINE

Eine Konfliktanalyse aus friedenspädagogischer Sicht

Konfliktanalysen - Arbeitsanregungen

Eine Konfliktanalyse ist ein wichtiges Mittel, um bewaffnete Konflikte zu verstehen und Friedensstrategien zu entwickeln. Um vielfältige Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die Konfliktanalysen in der praktischen Bildungsarbeit, ob in der Schule oder auch außerschulisch, eingesetzt werden können, hat die Servicestelle Friedensbildung drei unterschiedliche Anregungen mit konkreten Aufgaben zum Einsatz der Konfliktanalysen entwickelt. Diese haben jeweils einen eigenen Schwerpunkt:

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Konfliktanalysen - Lernposter

Wie kann man einen bewaffneten Konflikt oder Krieg mit einem Fokus auf Frieden analysieren? Mithilfe von Leitfragen, die vom Team der Servicestelle Friedensbildung entwickelt wurden, wird es erleichtert, einen tieferen Einblick in Konfliktsituationen zu gewinnen. Diese Leitfragen werden auf einem Lernposter in Illustrationen präsentiert, die dazu anregen, verschiedene Ansätze aus der Friedens- und Konfliktforschung anzuwenden. Sie laden dazu ein, vielfältige bestehende und mögliche Friedenspotenziale zu erforschen und zusammenzutragen. Das Poster hier zum Download:

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Wo? – Konfliktregion

Die Ukraine ist ein Staat im östlichen Europa und ist neben Russland und Kasachstan eines der größten Länder der ehemaligen Sowjetstaaten. Die Ukraine ist fast doppelt so groß wie Deutschland, hat jedoch nur rund 44 Millionen Einwohner. Zwischen dem ukrainischen Bevölkerungsanteil (laut Volkszählung von 2001 liegt dieser bei 77,8 Prozent) und dem russischen (17,3 Prozent) kommt es seit Jahren immer wieder zu Konflikten.

Wer? – Konfliktparteien

Zwischenstaatlicher Konflikt zwischen der Ukraine und Russland sowie innerstaatlicher Konflikt zwischen der ukrainischen Regierung und prorussischen Separatist:innen. Im aktuellen Krieg bildet Russland unter der Regierung des Präsidenten Wladimir Putin zusammen mit prorussischen Separatist:innen die eine Konfliktpartei. Die Ukraine unter der Führung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bildet zusammen mit der ukrainischen Armee, der Nationalgarde und Paramilitärs die andere Konfliktpartei.

Die USA und die NATO-Staaten betonen, dass sie nicht als Konfliktpartei in den Krieg in der Ukraine eingreifen. Sie verhängen zahlreiche Sanktionen gegen Russland. Sie unterstützen die Ukraine mit Waffenlieferungen und durch die Ausbildung der Streitkräfte, entsenden aber bisher keine eigenen Truppen in die Ukraine.

 

Wann? – Zeittafel

1991: Unabhängigkeit des Landes

Zerfall der Sowjetunion und Unabhängigkeit der Ukraine. Im Land herrscht Uneinigkeit darüber, inwieweit die Ukraine sich Europa oder Russland zuwenden und zu welchen Ländern sie die Beziehungen ausbauen soll.

2013: Beginn der „Euromaidan“-Revolution

Der ukrainische Präsident Janukowytsch verweigert im November die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU. Hunderttausende demonstrieren monatelang auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz (Maidan) für eine pro-europäische Ausrichtung des Landes. Auf die gewaltfreien Proteste wird mit Polizeigewalt reagiert.

Februar 2014: Ende der „Euromaidan“-Revolution; Flucht Janukowytschs

Während gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstrierenden werden rund 100 Menschen getötet. Nach einer mit Unterstützung von Deutschland, Frankreich und Polen verhandelten Vereinbarung zur Beilegung der Krise flieht Janukowytsch. Es wird eine Übergangsregierung gebildet.

2014: Annexion der Halbinsel Krim

Russland annektiert im März rechtswidrig die Halbinsel Krim und unterstützt prorussische Separatist:innen im Osten der Ukraine. Die Gebiete Donezk und Luhansk in der Donbass-Region erklären sich in einem umstrittenen Referendum zu unabhängigen Volksrepubliken.

2014/2015: Abschuss eines zivilen Flugzeugs; Minsker Abkommen

Prorussische Separatist:innen schießen im Juli 2014 über der Ostukraine das Passagierflugzeug MH 17 ab; dabei sterben 298 Menschen. Die EU führt daraufhin Wirtschaftssanktionen gegen Russland ein. Unter Vermittlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Deutschlands und Frankreichs werden die Minsker Abkommen (Minsk I und Minsk II) unterzeichnet. Die darin vereinbarte Waffenruhe hält aber nicht lange an. Ein Teil der Ostukraine wird seitdem von den Separatist:innen und ein Teil von der ukrainischen Regierung kontrolliert.

2021/2022: Russischer Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze

Russland zieht seine Truppen nahe der ukrainischen Grenze unter dem Vorwand einer Militärübung zusammen. Während Putin vor einer NATO-Osterweiterung mahnt, macht er seine vermeintlichen Gebietsansprüche in der Ukraine deutlich. Die USA unterstützt die Ukraine mit Waffenlieferungen und schickt tausende Soldat:innen an die NATO-Ostflanke; europäische Staaten versuchen zudem mit Gesprächen eine weitere Eskalation des Konflikts zu verhindern.

Februar 2022: Beginn des Angriffskriegs: Russischer Einmarsch in die Ukraine

Russland erkennt die Unabhängigkeit der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk an. Am 24. Februar 2022 marschieren russische Truppen in die Ukraine ein und beginnen einen Krieg. Es folgen die massive Zerstörung von Städten, zahlreiche Hinweise auf Kriegsverbrechen und die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Russland stößt in der Ukraine auf hartnäckigen Widerstand und scheitert mit dem Versuch, die Ukraine in kurzer Zeit einzunehmen und eine eigene Regierung einzusetzen.

Juni 2022: Ukraine wird offizieller EU-Beitrittskandidat

Die EU gibt dem von der Ukraine bereits nach Kriegsbeginn eingereichten Antrag auf Mitgliedschaft statt. Damit wird die Ukraine zum offiziellen EU-Beitrittskandidaten.

September 2022: Russische Annexion vier besetzter Gebiete

Putin erklärt vier besetzte ukrainische Gebiete im September zu russischem Staatsgebiet. Zuvor wurden in diesen Regionen (Saporischschja, Cherson, Luhansk und Donezk) Scheinreferenden durchgeführt, in denen sich laut russischen Angaben die Mehrheit für die Annexion entschieden habe.

2022/2023: Stellungskrieg, Rückeroberungen und russische Offensiven

Der Krieg wird seit Mitte 2022 vor allem im Süden und Osten der Ukraine fortgeführt. Russische Truppen erhalten zeitweise die Kontrolle über ganze Gebiete und strategisch wichtige Städte wie Cherson, während die Ukraine versucht ihre Gegenoffensive in anderen Teilen, wie beispielsweise im Raum Charkiw, aufrechtzuerhalten. Ukrainische Truppen können vorübergehend in vom russischen Militär und Wagner-Gruppen besetzte Gebiete vordringen und diese teilweise zurückerobern. Anfang des Jahres 2023 kommt es zu heftigen Kämpfen um die Stadt Bachmut, bis diese im Mai 2023 von russischen Kräften vollständig eingenommen wird.

Juni 2023: Bewaffneter Aufstand russischer Söldner:innen

Unter der Führung von Jewgeni Prigoschin, dem Chef der Wagner-Gruppe, welche Russland bislang im Kampf in der Ukraine unterstützte, kommt es nach monatelangem Machtkampf um die militärische Führung zu einem bewaffneten Aufstand durch russische Söldner:innen. Der Vorstoß gegen Moskau bleibt jedoch erfolglos. Im August kommt Prigoschin bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Putin bestreitet eine Verwicklung in den Vorfall.

2023/2024: Neuerliche Auseinandersetzungen und detaillierte Entwicklungen im Krieg gegen die Ukraine s. LpB-Dossier.

 

Wie? – Mittel der Konfliktaustragung

Seit 2014 auf der Halbinsel Krim:

  • Wiederkehrende gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen prorussischen Separatist:innen im Osten der Ukraine und ukrainischen Sicherheitskräften.
  • Russland unterstützt die Separatist:innen auch mit militärischen Mitteln.

Seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar 2022:

  • Russische Truppen marschieren völkerrechtswidrig in die Ukraine ein, nachdem seit November 2021 zunächst massive Truppenaufstellungen an der Grenze vorgenommen wurden.
  • Auf russische Luftangriffe auf militärische und kritische Infrastrukturen in der Ukraine folgten Truppenvorstöße Russlands aus dem Norden, Osten und Süden. Die Ukraine wehrt sich erfolgreich gegen eine Einnahme der Hauptstadt Kiew. Seither kommt es zu einem Abnutzungskrieg mit einer Kriegsfront im Osten und Süden der Ukraine.  
  • Die kämpferischen Auseinandersetzungen werden mit Luft-, See- und Bodenoffensiven geführt. Darüber hinaus werden Desinformationskampagnen sowie Angriffe auf Informations-, Wirtschafts- und Energieinfrastruktur genutzt, um das Kriegsgeschehen zu beeinflussen. Dazu zählen Angriffe auf die Stromversorgung der Ukraine sowie Cyberangriffe. Kämpfe in der Umgebung von Kernkraftwerken und deren Beschlagnahmung durch russische Truppen schüren die Sorgen um die nukleare Sicherheit.
  • Zivile Gebäude und Infrastruktur, darunter Krankenhäuser, werden zerstört.
  • Beide Seiten melden immer wieder gegenseitige Drohnenangriffe. Auch die Ukraine versucht, strategische Ziele in Russland mit gezielten Drohnenangriffen zu treffen.
  • Die EU, die NATO, die USA und weitere Staaten unterstützen die Ukraine mit Waffenlieferungen und Hilfspaketen, der Ausbildung von ukrainischen Soldaten und Soldatinnen an Kriegsgeräten und seit 2023 auch mit Kampfpanzern. Russland erhält militärische und finanzielle Unterstützung durch Belarus, den Iran und Nordkorea, doch auch China gilt als Partner.
  • Der Beginn des Krieges im Februar 2022 führte zu einer großen Fluchtbewegung. Über ein Drittel der rund 44 Millionen Ukrainer:innen fliehen in den Westen des Landes oder ins Ausland.
  • Die Ukraine und Russland werfen sich gegenseitig Kriegsverbrechen und Behinderung von Fluchtkorridoren für Zivilist:innen vor.
  • Sowohl Russland als auch die Ukraine berufen Wehrpflichtige in einer Teilmobilisierung zum Kriegsdienst ein. Es kommt immer wieder zur Gefangennahme und Deportation von Soldaten und Soldatinnen.

Warum? – Erklärungen für den Konflikt

Separatistische Unabhängigkeitsbestrebungen (machtbasierter Erklärungsansatz)

In der Vergangenheit kämpfte die Ukraine immer wieder darum, einen Kurs für sich festzulegen, ob sie sich mehr dem Westen oder dem Osten Europas hinwenden soll. Ein Teil der Menschen in der Ostukraine will eine enge Verbindung zu Russland. Der letzten Volkszählung 2001 zufolge identifizierten sich in der Ukraine 77,8 % der Bevölkerung als Ukrainer:innen und 17,3 % als Russ:innen. Im Donbass identifizierten sich im Gebiet Donezk 38,2 % als Russ:innen, im Gebiet Luhansk 39 % und auf der Halbinsel Krim waren es 58,3 %  (zur Quelle). Prorussische Separatist:innen versuchen seit 2014 mit Gewalt die Loslösung dieser Gebiete von der Ukraine zu erzwingen.

Großmachtstreben und Systemkonflikt (machtbasierter Erklärungsansatz)

Ein anderer Erklärungsansatz lautet, dass die zunehmende Orientierung der Ukraine Richtung EU sowie die NATO-Osterweiterung von Russland als unmittelbare Bedrohung der eigenen Sicherheit angesehen wurde. Aus dieser russischen Argumentation heraus wird auch eine Verletzung völkerrechtlicher Normen in Kauf genommen, um die eigenen Sicherheitsinteressen zu wahren. Eine weitergehende Interpretation lautet, dass es Russland nicht nur um Verteidigung, sondern um Ausdehnung seines sicherheitspolitischen Einflusses in Osteuropa geht. Russland will sich wieder als Großmacht gegen „westliche“ Mächte, wie die USA, etablieren. Putin hat vielfach deutlich gemacht, dass er ein einflussreiches Staatsgebiet bestehend aus Russland, Belarus und der Ukraine aufbauen möchte und begründet dies mit einer historisch-kulturellen Verbindung zwischen den Ländern. Dieses russische Großmachtstreben richtet sich zudem gegen freiheitlich-demokratische Werte, die innenpolitisch eine Gefahr für das Putin-Regime darstellen würden. Der Krieg wird daher mitunter auch als Ausdruck eines größeren Weltordnungskonflikts zwischen demokratisch und autoritär organisierten Staaten angesehen.

Kulturelle Identitäten und Nationalismus (kultureller Erklärungsansatz)

Aufgrund historischer und kultureller Verflechtungen zwischen der Ukraine und Russland ist der Konflikt mit verschiedenen Identitätsvorstellungen verknüpft. Das liegt auch daran, dass das heutige Staatsgebiet der Ukraine erst 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion unabhängig wurde. Davor war es Teil mehrerer Staaten, z.B. vom Königreich Polen-Litauen, dem Russischen Reich oder der Sowjetunion. So haben sich widersprechende nationale Erzählungen in der Ukraine und Russland sowie innerhalb der russischen und ukrainischen Bevölkerung in der Ukraine entwickelt. Russland sieht die russische Bevölkerung im Osten der Ukraine als bedroht an und rechtfertigt u.a. die Einnahme der Krim und die Invasion mit dem Schutz der dortigen russischen Bevölkerung. Die Erzählung von einer „russischen Welt“, die weit über die derzeitigen Grenzen hinausgehe, wird verbunden mit einer gezielten Förderung nationalistischen und militaristischen Gedankenguts in Medien und Bildungswesen. Dadurch soll vor allem die Unterstützung des Krieges und die Zustimmung der russischen Öffentlichkeit gesichert werden.

Wirtschaftliche und geopolitische Gründe (ökonomischer/ machtbasierter Erklärungsansatz)

Die Halbinsel Krim ist mit ihrem Hafen Sewastopol ein strategisch wichtiger Flottenstützpunkt, von dem aus russische Kriegsschiffe ganzjährig (eisfrei) besser in verschiedene Teile der Welt gelangen können als über den Hafen in St. Petersburg und die Ostsee. Daher ist das geopolitische Interesse Russlands an der Krim und dessen Eingliederung als Teil des russischen Staatsgebietes hoch. Ein weiterer langjähriger Konflikt zwischen der Ukraine und Russland dreht sich um die Erdgaslieferungen und Erdgaspipelines, die nach Europa führen.

Friedenspotenziale

Welche Friedensbemühungen gibt es bereits?

International

Es gibt seit langem Vermittlungsversuche der OSZE mit Unterstützung von Deutschland und Frankreich. Diese führten 2015 zu den Minsker Abkommen I und II. Die OSZE hatte zudem bis 2022 eine Beobachtermission in der Donbass-Region, die jedoch zu Kriegsbeginn abgezogen wurde. Es handelte es sich um eine unbewaffnete zivile Mission, der es gelang, lokale Waffenstillstände auszuhandeln. Sie ermöglichte es den Behörden, Aufgaben wie die Instandsetzung der Wasserversorgungsinfrastruktur, zu übernehmen.

In Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Ukraine in 2022 hat die Europäische Union mehrere Sanktionspakete gegen Russland erlassen. Diese umfassen u.a. im Finanzbereich den Ausschluss russischer Banken aus dem SWIFT-System und damit aus internationalen Finanzströmen; sowie Ausfuhrbeschränkungen von Gütern. Darüber hinaus gibt es Sanktionen gegen hunderte Einzelpersonen und Einrichtungen. Dazu zählen Reiseverbote und das Einfrieren von Vermögenswerten. Auch die USA und weitere G7-Staaten schließen sich Finanzsanktionen gegen Russland an. Ziel der umfassenden Sanktionspakete ist die Schwächung der Import- und Exportfähigkeit und der russischen Kriegswirtschaft.

Bereits am 2. März 2022 stimmte die UNO in einer Generalversammlung mit deutlicher Mehrheit für eine Resolution gegen Russlands Krieg in der Ukraine und forderte Russland auf, die Kriegshandlungen einzustellen. Auch knapp ein Jahr später stimmten über 140 Länder für eine Resolution und forderten den Rückzug russischer Truppen. Die Abstimmungen sind rechtlich nicht bindend. Jedoch signalisieren sie die kontinuierliche internationale Unterstützung der Ukraine und die Friedensbemühungen.

Unter Vermittlung der UNO und der Türkei wurde am 22. Juli 2022 eine Vereinbarung zu Getreidelieferungen und einem Getreidekorridor aus der Ukraine mit Russland getroffen, nachdem Russland zu Kriegsbeginn wichtige Getreidelieferungen blockierte. Die Ukraine zählt zu einem der weltweit größten Getreideexporteure und ist wichtig für die weltweite Ernährungssicherheit. Das Abkommen und die Gewährleistungen sicherer Transportwege über das Schwarze Meer wurden im Juli 2023 durch Russland aufgekündigt.

Verfahren am internationalen Strafgerichtshof (IStGH)

Dem Chef-Ankläger des Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), Karim Khan, zufolge wird der russische Einmarsch von massiven Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht begleitet. Verbrechen dieser Art können vor den nationalen Strafgerichten der Ukraine (oder nationalen Gerichten in einem anderen Staat) und vor dem IStGH in Den Haag angeklagt werden. In der Ukraine wird bereits intensiv ermittelt; die ukrainische Regierung hat auch Ermittlungen des IStGH gegen Völkerrechtsverbrechen auf ihrem Staatsgebiet zugestimmt, unabhängig davon, wer sie begeht. Zu den Verbrechen, die strafrechtlich durch den IStGH verfolgt werden können, gehören Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Verbrechen der Aggression (Beteiligung an einem Angriffskrieg). Der internationale Strafgerichtshof hat im März 2023 Anklage erhoben gegen Präsident Putin und die russische Kinderrechtsbeauftragte Marija Lwowa-Belowa wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen auf ukrainischem Boden, vor allem aufgrund der Deportation von Kindern aus den besetzten Gebieten der Ukraine nach Russland. Russland ist allerdings kein Mitglied des IStGH. Nicht-Mitglieder können i.d.R. nur dann angeklagt werden, wenn es dazu einen Beschluss des UN-Sicherheitsrat gibt. Da Russland Veto-Macht im UN-Sicherheitsrat ist, verhindern sie einen solchen Beschluss. Da die Ukraine jedoch dem IStGH die Zuständigkeit zugesprochen hat und die mutmaßlichen Völkerrechtsverbrechen auf dem Territorium der Ukraine verübt werden, können die Ermittlungen in diesen Fällen auch gegen Angehörige eines Nicht-Vertragsstaates gerichtet werden. Zur Beobachtung und Untersuchung möglicher Verbrechen wurde daher am 4. März 2022 eine „Unabhängige Internationale Untersuchungskommission zur Ukraine“ (IICIU) und eine UN-Mission zur Beobachtung der Menschenrechtssituation in der Ukraine eingesetzt. Diese Gremien und weitere zivilgesellschaftliche Organisationen in der Ukraine dokumentieren völkerrechtliche Verbrechen und sammeln Beweise für Kriegsverbrechen. Bereits jetzt wurden über 100.000 Fälle von Kriegsverbrechen seit dem russischen Einmarsch 2022 registriert. Seit Haftbefehl gegen Präsident Putin erlassen wurde, hat dieser keinen Vertragsstaat des IStGH mehr besucht, da ihm dort sonst die Verhaftung droht.

Staatlich

Die Vereinbarungen der Minsker Abkommen 2014/2015 wurden nur vereinzelt und schleppend umgesetzt. Es gab auch nur selten direkte Verhandlungen der ukrainischen Regierung mit den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Stattdessen verhängte die ukrainische Regierung eine Wirtschaftsblockade gegen die beiden Gebiete, die dadurch auch wirtschaftlich von der Unterstützung Russlands abhängig wurden.

Zivilgesellschaftlich

Zivilgesellschaftliche Aktionen in der Ukraine wurden schon während der Orangenen Revolution 2004 und beim Euromaidan 2014 sichtbar. Es gibt NGOs, die sich für eine Verständigung zwischen Ukrainer:innen anbieten, die sich als ukrainisch und solchen, die sich als russisch identifizieren. In den letzten Jahren gibt es verstärkt Initiativen für Hilfeleistungen in der Donbass-Region. Auch in Russland demonstrieren Menschen gegen den Krieg. Allerdings werden diese Demonstrationen von russischen Sicherheitskräften unterdrückt.

Welche Friedensansätze werden diskutiert?

Der im Februar 2022 begonnene Krieg hat sowohl die Aussicht auf eine Einhaltung der Minsker Abkommen als auch auf zahlreiche weitere Friedensbemühungen zunichtegemacht. Die Aussichten auf einen Frieden durch Verhandlungen haben sich trotz internationaler Bemühungen massiv verschlechtert.

Verhandlungen

Für Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine braucht es neutrale Vermittler, von denen es nicht mehr viele gibt, da sich viele Länder klar auf die Seite der Ukraine gestellt haben. Als mögliche Vermittler werden häufig China, die Türkei oder Israel genannt. China schlug beispielsweise im Frühjahr 2023 eine Waffenruhe und einen Zwölf-Punkte-Plan für Friedensverhandlungen vor, welcher einerseits die Beendigung internationaler Sanktionen, andererseits jedoch keinen Abzug russischer Truppen beinhaltet. Ein Neutralitätsstatus der Ukraine bei gleichzeitigen Sicherheitsgarantien durch Dritte gilt als eine mögliche Option für Frieden. Das würde bedeuten, dass die Ukraine keinem anderen Bündnis (z.B. NATO, EU) beitritt, aber von mächtigen Staaten Sicherheit zugesagt bekommt. Wie genau diese Sicherheitsgarantien aussehen sollen, müsste Gegenstand von internationalen Verhandlungen sein. Mittlerweile gilt die Ukraine jedoch offiziell als EU-Beitrittskandidat und hat einen beschleunigten Beitritt in die NATO beantragt. Die NATO erklärt, dass sie die Ukraine als Mitglied aufnehmen möchte, dies jedoch nicht während des Kriegs möglich ist. Als eine andere Möglichkeit galt die Idee, eine föderale Ukraine zu schaffen, mit einem Sonderstatus für die Regionen Donezk und Luhansk, die seit 2014 teilweise unter der Kontrolle der von Russland unterstützten Separatist:innen stehen. Angesichts der völkerrechtswidrigen Annexion der vier Gebiete (Saporischschja, Cherson, Luhansk und Donezk) im September 2022 durch Russland, war der ukrainische Präsident Selenskyj nicht mehr bereit, über diese Idee zu verhandeln. Bei internationalen Treffen – nicht zuletzt beim vierten „Friedensgipfel“ in Davos in der Schweiz bei dem mehr als 80 Länder zu Gesprächen über Friedenslösungen für die Ukraine teilnahmen – plädierte Präsident Selenskyj für seine bereits im November 2022 vorgestellte „Friedensformel“. Diese umfasst einen 10-Punkte-Plan, welcher u.a. den Rückzug aller russischer Truppen, Strafen für Kriegsverbrechen, Reparationszahlungen und Sicherheitsgarantien vorsieht. Bislang stellt jedoch die Einbindung russischer Unterstützerstaaten sowie die Teilnahme Russlands an den Gesprächen eine Herausforderung dar. Russland stellt umfassende Gegenforderungen für eine eventuelle Teilnahme Moskaus an Friedensverhandlungen, darunter die Einstellung der Waffenlieferungen an die Ukraine und der Sanktionen gegen Russland durch westliche Staaten.

Gewaltfreier Widerstand und Kriegsdienstverweigerung

Die Menschen in der Ukraine haben in der Vergangenheit erfolgreich gewaltfreien Widerstand geleistet und so einen Wandel in ihrer Gesellschaft herbeigeführt (z.B. Orangene Revolution und Euromaidan). Die dadurch erstarkte Zivilgesellschaft hat zu Beginn des Krieges 2022 an vielerlei Orten gewaltfreien Widerstand gegen den Einmarsch geleistet. Es gab Bilder von unbewaffneten Menschen, die Militärfahrzeuge blockieren oder Berichte über Bürgermeister:innen in den besetzten Gebieten, die ihre Zusammenarbeit mit den Besatzer:innen verweigern. Manche Stimmen fordern daher eine systematischere Unterstützung solcher gewaltfreien Initiativen.

Auch in Russland findet gewaltfreier Widerstand statt und zahlreiche Menschen sind gegen den Krieg. Öffentlicher Widerstand stellt für die Menschen ein hohes, persönliches Risiko dar, denn jeglicher Protest kann derzeit mit schweren Freiheitsstrafen geahndet werden. Zehntausende russische Männer flohen seit der Verkündung der Teilmobilmachung durch den Präsidenten Putin im September 2022 ins Ausland, um sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Auch dies kann ein Ausdruck von Widerstand gegen den Krieg sein.

Konfliktzwiebeln

Konfliktpartei: Russland

Positionen
-    Krim und Donbass sollen Teil von Russland oder unabhängige Volksrepubliken sein
-     Russische Bevölkerung in der Ukraine gefährdet
-    Ukrainische Regierung ist westlicher Handlanger
-     Verhandlungen mit der Ukraine nur, wenn russische Gegenbedingungen erfüllt sind
-      Kriegsende erst, wenn russische Ziele erreicht sind
Interessen
-    Verhinderung der (NATO-)Osterweiterung
-     Territoriale Besitznahme von historischem Gebiet der UdSSR und sicherheitspolitische Kontrolle in Osteuropa
-     Ende der anti-russischen Sanktionen
-     Einnahme der gesamten Ukraine
-     Schutz der russischen Sprache und Kultur in Ostoukraine
-      Sicherung strategisch wichtiger Flottenstützpunkte auf der Halbinsel Krim
Bedürfnisse
-    Machterhalt
-    Innenpolitische Stabilität und Sicherung der innenpolitischen Unterstützung
-    Schutz der eigenen Identität
-    Autonomie

Arbeitsblatt Konfliktzwiebel (leer)

Arbeitsblatt Konfliktzwiebel Russland (ausgefüllt)

Konfliktpartei: Ukraine

Positionen
-    Rückeroberung und Wiedereingliederung aller ukrainischen Gebiete, darunter die Krim und der Donbass
-     Russland muss sich vollständig zurückziehen, Reparationszahlungen leisten und für Kriegsverbrechen bestraft werden
-     Recht auf Selbstverteidigung 
Interessen
-    Westliche Waffenlieferungen und militärische Unterstützung
-     Sicherung des Zugangs und Kontrolle über Staatsgebiet
-     Getreideausfuhr sicherstellen
-     Selbstbestimmungsrecht
-     EU und NATO-Mitgliedschaft
-     Sicherung des Zugangs und Kontrolle über Staatsgebiet
Bedürfnisse
-    Sicherheitsgarantie und Stabilität
-    Ende des Krieges und Friedensabkommen unter ukrainischen Bedingungen
-    Humanitäre Hilfe und Überleben

Arbeitsblatt Konfliktzwiebel (leer)

Arbeitsblatt Konfliktzwiebel Ukraine (ausgefüllt)

 

Konfliktpartei: NATO

Positionen
-    Die territoriale Integrität der Ukraine muss wiederhergestellt werden.
-    Ukraine hat das Recht auf Selbstverteidigung
-    Neben Finnland soll auch Schweden NATO-Mitglied werden
Interessen
-    Stabilität in der Euro-Atlantischen Zone
-    Sicherung der NATO-Ostflanke
-    Ende des Krieges in der Ukraine
-    NATO-Mitgliedschaft der Ukraine
Bedürfnisse
-    nationale Sicherheit für die Ukraine und die NATO-Mitglieder

Arbeitsblatt Konfliktzwiebel (leer)

Arbeitsblatt Konfliktzwiebel NATO (ausgefüllt)

 

Konfliktbaum

Konfliktbaum Ukraine

Effekte und Auswirkungen

-    humanitäre Notlage
-    Konstruktion von Feindbildern, Hassrede, Desinformationen
-    Zerstörung von Gebäuden und Infrastruktur, Cyberangriffe
-    viele Tote, Verletzte und Vermisste
-    Energiekrise
-    Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit; Kriegsgefangene 
-    Teilmobilisierung & Kriegsdienstverweigerungen
-    Flucht und Vertreibung von über 30% der ukrainischen Bevölkerung
-    Abnutzungskrieg und Aufrüstung

Kernproblem: Russische Großmachtbestrebungen; Sicherung sicherheitspolitischen Einflusses

Konfliktursachen

-    historische Bedeutung und innenpolitische Relevanz der Gebiete für die Ukraine und Russland
-    im Laufe der Zeit wechselnde Bevölkerungsstrukturen
-    Gefühl der Diskriminierung von russischen Ukrainer:innen
-    tradierte Self-Other Konstruktionen und Feindbilder
-    Ukraine im Spannungsfeld zwischen Sicherheitsinteressen Russland und EU/NATO

Arbeitsblatt Konfliktbaum (leer)

Arbeitsblatt Konfliktbaum Ukraine (ausgefüllt)


 

Literatur und Quellen

Karten

Karte 1: Landkarte Ukraine. The World Factbook 2021. Washington, DC: Central Intelligence Agency, 2021.
Karte 2: Lagekarte Ukraine The World Factbook 2021. Washington, DC: Central Intelligence Agency, 2021.

Unterrichtsmaterial: Zivile Konfliktbearbeitung und der Krieg in der Ukraine

Gerade angesichts des Ausmaßes an Zerstörung und Leid in der Ukraine sind Maßnahmen ziviler Konfliktbearbeitung wie humanitäre Hilfe, Unterstützung geflohener Menschen, das Schaffen von Voraussetzungen von Friedensverhandlungen und die Vorbereitung des Friedens von großer Bedeutung.

Diese 4-seitigen Unterrichtsmaterialien aus der Reihe „Friedensbildung AKTUELL" möchten auf der Suche nach Wegen zum Frieden auch die Mittel ziviler Konfliktbearbeitung mit ihren Potenzialen und Grenzen in den Blick nehmen. Die Ausgabe steht kostenlos zum Download zur Verfügung.

Zivile Konfliktbearbeitung und der Krieg in der Ukraine

Träger der Servicestelle Friedensbildung

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