Servicestelle Friedensbildung

Baden-Württemberg

 

Ruanda – Versöhnung nach dem Völkermord

Ein Friedensprojekt der „Peace Counts"-Ausstellung

Text: Markus Wanzeck
Fotos: Eric Vazzoler

Seit dem Völkermord von 1994 ist Ruanda eine verwundete  Nation.  Eine  kleine  Organisation versucht,  Opfer  und  Täter  miteinander   zu versöhnen. In  Gesprächsrunden  und  Wiederaufbauprojekten  nähern sich die einstigen Todfeinde vorsichtig an.

Volltext der Reportage (ohne Fotos) zum Download. Text: Markus Wanzeck

Fotos der Reportage mit Kurztexten zum Download sowie ergänzende Anregungen, Fotos: Eric Vazzoler, Text: Anne Romund

Foto-Reportage

(zum Anschauen entweder der Slideshow folgen oder auf die Pfeile klicken)

  • Seit dem Völkermord von 1994, als etwa eine Million Angehörige der Tutsi-Minderheit umkamen, ist Ruanda eine verwundete Nation. © Foto: Eric Vazzoler für Peace Counts

    Nach  dem  Völkermord  von  1994  ist  Ruanda  noch  immer  eine  verwundete,  gespaltene  Nation.  Die  kleine Organisation AMI im Süden des Landes versucht  etwas,  das  schwer  vorstellbar  scheint:  Überlebende  und  Mörder  miteinander  zu  versöhnen.  In  Gesprächsrunden  und  Wiederaufbauprojekten  nähern sich die einstigen Todfeinde vorsichtig an.

  • Genozid-Gedenkstätte Murambi. © Foto: Eric Vazzoler für Peace Counts

    Dieudonné  Munyankiko  erinnert  sich  noch  allzu  gut  an  das  Frühjahr  1994.  In  diesem  ehemaligen  Schulgebäude  in  Murambi,  einige  Kilometer  westlich  der  Stadt  Butare,  liegen  heute  die  konservierten  Leichname  mehrerer  Zehntausend  Tutsi.  Im  April 1994 hatten die Menschen dort vergeblich Zuflucht  gesucht,  als  Hutu-Milizen  die  Region  heimsuchten, um alle Angehörigen der Tutsi-Minderheit auszulöschen.  Heute  ist  der  Ort  eine  Gedenkstätte  für  die  Opfer  dieses  Massakers.  Auch  die  Familie  von  Munyankikos  Mutter  wurde  von  Hutu-Extremisten umgebracht.

  • Dieudonné Munyankiko ist der Sohn einer Tutsi-Frau und eines Hutu-Mannes. © Foto: Eric Vazzoler für Peace Counts

    Als  im  Sommer  1994  die  Tutsi-Rebellenarmee  um  den   jetzigen   Präsidenten   Paul   Kagame   Ruanda   eroberte,  fiel  schließlich  ein  Großteil  der  Hutu-Verwandten  seines  Vaters  Racheakten  zum  Opfer.  Der  damals  siebzehnjährige  Dieudonné  und  seine  Eltern  überlebten  in  einem  Versteck  am  Stadtrand  von  Butare.  „Als  Sohn  einer  Tutsi  und  eines  Hutu  ist es leicht für mich, von Versöhnung zu sprechen. Aber  es  ist  auch  unendlich  schwierig,  weil  beide  Seiten ihre Vorbehalte gegen mich haben.“

  • Munyankiko ist einer der Mitbegründer von AMI („Association Modeste et Innocent"). © Foto: Eric Vazzoler für Peace Counts

    Dieudonné  rief  die  Organisation  AMI  im  Februar  2000  mit  elf  weiteren  Mitstreitern  ins  Leben.  AMI  ist französisch für Freund. Es war sechs Jahre nach dem  Massaker,  bei  dem  binnen  drei  Monaten  bis  zu  einer  Million  Tutsi  und  gemäßigte  Hutu  ermordet  wurden.  Die  kleine  Organisation  veranstaltet  seither  Gewaltpräventionskurse  für  Polizisten.  Sie  schult Freiwillige aus den Dörfern in der Betreuung von  Traumatisierten  und  unterstützt  Schülergruppen,  in  denen  Hutu-  und  Tutsikinder  gemeinsam  Theater spielen. Und sie versucht sich an der Quadratur des Kreises: Täter und Opfer miteinander zu versöhnen.

  • Mit Annäherungsgruppen möchte AMI einen Dialog zwischen den verfeindeten Nachbarn in Gang setzen © Foto: Eric Vazzoler für Peace Counts

    „Groupe   de   rapprochement“   nennt   sich   dieser   ungewöhnliche  Gesprächskreis  auf  einem  Hügel  im  südruandischen  Distrikt  Huye,  „Annäherungsgruppe“.   Überlebende   des   Völkermordes   sitzen   den Mördern ihrer Verwandten gegenüber. Sie folgten  der  Einladung  der  Organisation  AMI.  Bevor  AMI  hier  die  Arbeit  aufnahm,  machten  die  Hutu  und  Tutsi  einen  Bogen  umeinander.  Den  Überlebenden  graut  vor  den  Gewalttätern,  die  nach  und  nach  aus  dem  Gefängnis  oder  Exil  zurückkehren.  Die  Heimkehrer  wiederum  fürchten  Racheakte  der  Überlebenden.

  • „Wir glauben, dass es möglich ist, Täter und Opfer miteinander ins Gespräch zu bringen", sagt Munyankiko. © Foto: Eric Vazzoler für Peace Counts

    Munyankiko  richtet  im  Namen  der  Organisation  das  Wort  an  die  Versammelten.  „Wir  danken  euch  für  euer  Kommen,  euren  Mut.  Wir  wissen,  dass  manche euch dafür verachten und bedrohen. Heute  sollen  Ex-Häftlinge  und  Überlebende  noch  unter  sich  bleiben.  Sagt  ehrlich,  was  ihr  denkt.  Aber  nennt keine Namen aus der anderen Gruppe! Denkt daran,  dass  alle  von  uns  Wunden  erlitten  haben.  Auch die Mörder.“

  • Überlebende der Massaker von 1994 sitzen in einer Gruppe zusammen. © Foto: Eric Vazzoler für Peace Counts

    Die Überlebenden hocken sich im Halbkreis um eine Frau,  die  mit  dem  Rücken  an  einem  knorrigen  Eukalyptusstamm  lehnt.  Sie  notiert  die  Wortmeldun-gen, die später der Gegenseite vorgetragen werden. Sie  hält  fest:  Außerhalb  der  Gesprächsgruppe  kein  offenes   Gespräch   möglich   -   Angst;   Überlebende   werden  ausgegrenzt  -  Einsamkeit.  Täter  zahlen  Entschädigungen  nicht  oder  nur  widerstrebend  -  neuer  Hass. Die Schriftführerin blickt auf die Liste: „Wenn wir  den  anderen  gegenüber  tatsächlich  so  ehrlich  sind wie verlangt, wird das doch kaum zur Aussöhnung beitragen!“

  • „Überlebende werden ausgegrenzt – Einsamkeit." „Verurteilte Täter zahlen nicht oder nur widerstrebend Entschädigungen – neuer Hass.". © Foto: Eric Vazzoler für Peace Counts

    „Immerhin   reden   wir   hier   wieder   miteinander“   wirft  ein  junger  Mann  aus  den  hinteren  Reihen  in  die Runde. „Das ist doch schon einmal etwas Gutes, oder?“  „Was soll daran gut sein?“ fragt Pauline Mugirasoni und steht auf: „Manche der Täter sprechen sogar von Reue. Aber ihre Worte bedeuten nichts.“ Die 56-Jährige nennt keine Namen. Und doch weiß jeder in der Gruppe, wen sie meint: François Sezirahiga  und  Felicité  Mushyaka.  Die  beiden  sitzen  in  der Häftlingsgruppe. Für Pauline sind sie die Ver-antwortlichen   für   den   gewaltsamen   Tod   ihres   Schwiegervaters.

  • In der Tätergruppe ergreift Felicité Mushyaka das Wort, deren Mann als verurteilter Mörder im Gefängnis sitzt. © Foto: Eric Vazzoler für Peace Counts

    In  der  Häftlingsgruppe  ein  paar  Meter  entfernt  ergreift  Felicité  das  Wort.  Ihr  Mann  führte  den  Mob  an,  der  1994  Paulines  Schwiegervater  ermordete.  „Ich  wünsche  mir  wirklich,  dass  wieder  Frieden  möglich ist. Aber wie?“ fragt sie. Felicité wird laut, ihre  Arme  schnellen  im  Rhythmus  ihrer  Sätze  auf  und ab „Dreizehn Jahre sitzt mein Mann nun schon im Gefängnis - und wofür?  Ich weiß nicht, wie ich die Entschädigung für die Opfer bezahlen soll. Und die Frau, die meinen Mann ins Gefängnis gebracht hat, grüßt nicht einmal zurück,“ schreit sie mit einem Blick zu Pauline.

  • Auch François Sezirahiga (vorne rechts) sitzt in der Tätergruppe. © Foto: Eric Vazzoler für Peace Counts

    François  hockt  vor  der  gelb-schwarz  Gewandeten  und starrt zu Boden. Er war dabei, damals, in dem mordenden  Mob  zusammen  mit  Felicités  Mann.  Nach acht Jahren Haft kam er frei. Pauline aus der Gruppe der Überlebenden hatte die Leute von AMI gebeten,  ihn  zum  Gesprächskreis  einzuladen.  Sie  hoffte  auf  eine  Entschuldigung.  François  erschien.  Doch er fand bisher keine Worte. „Mir tut leid, was geschehen ist“, gesteht er. „Das würde ich Pauline gern sagen. Aber ich schaffe es nicht.“

  • Warum? „Die Regierung sagte, wir sollen die Tutsi töten", sagt Sezirahiga © Foto: Eric Vazzoler für Peace Counts

    “Irgendwann  werde  ich  sie  um  Vergebung  bitten.“  Wofür? „Ich habe Paulines Schwiegervater getötet.“ Kannten  Sie  ihn?  „Ja.  Ich  habe  für  ihn  gearbeitet.  Wir  waren  sogar  miteinander  befreundet.“  Warum  haben Sie ihn dann getötet? „Die Regierung sagte, wir sollen die Tutsi töten.“ Und Sie haben gehorcht? „Der   Gemeindevorsteher   schickte   uns   los,   eine   ganze  Gruppe.“  Hat  Paulines  Schwiegervater  Sie  in  der  Gruppe  erkannt?  „Er  hat  mich  gesehen.  Er  fragte  mich:  ‚Du  auch,  mein  Freund?  Du  kommst,  um  mich  zu  töten?‘“  Was  haben  Sie  geantwortet?  „Ja.“  Eine  Pause.  „Eigentlich  habe  ich  Paulines  Schwiegervater gar nicht wirklich umgebracht. Ich habe  doch  nur  dabeigestanden  und  zugesehen.  Ich  habe  mich  ansonsten  nur  um  das  Plumpsklo  gekümmert,  in  dem  der  Leichnam  verschwinden  sollte.  Andere  haben  da  viel  mehr  Schuld  zu  tragen.“  Nach  einer  weiteren  Pause  sagt  er:  „Ja,  ich  habe den alten Mann getötet. Ich habe Alpträume. Ich habe keinen Seelenfrieden“.

  • Neben den Annäherungsgruppen organisiert AMI auch Schulungen für Freiwillige, die Traumatisierte betreuen. © Foto: Eric Vazzoler für Peace Counts

    Kann  man  von  einem  Menschen  erwarten,  den  Mördern  seines  Mannes,  seiner  Frau,  seiner  Kinder  die  Hand  zu  reichen?  „Es  ist  fast  unmenschlich  schwer,“ sagt Dieudonné. „Aber was wäre die Alternative?“  Ruanda  hat  elf  Millionen  Einwohner.  Bei  AMI sind sie immer noch nur zwölf Mitarbeiter. „Es wird  nur  in  vielen,  kleinen  Schritten  passieren”,  sagt Dieudonné. „Aber man kann sie gehen.“

  • Die Teilnehmer der Annäherungsgruppe auf dem zentralen Hügel der Kanyinya-Gemeinde. © Foto: Eric Vazzoler für Peace Counts

    Die   Annäherung   der   Gesamtgruppe   verläuft   in   drei Schritten: Zuerst sprechen die Teilnehmer mit Ihresgleichen über das Erlebte und ihre Gefühle. Im nächsten  Schritt  tauschen  die  Gruppen  untereinander die Gesprächsprotokolle aus – sie sollen, mit der geliehenen Geduld des Papiers, die Lebenswelt der  anderen  verstehen  lernen.  Als  drittes  folgt  die  direkte Aussprache. Am Ende soll eine schritfliche Vereinbarung  stehen.  Täter  und  Opfer  stellen  sie  gemeinsam auf.

  • Gemeinsamer Wiederaufbau zerstörter Häuser durch Täter- und Opferangehörige. © Foto: Eric Vazzoler für Peace Counts

    Gemeinsame  Wiederaufbauprojekte  sollen  helfen,  die  tiefen  Gräben  zwischen  den  Gruppen  zu  über-winden. Bei AMI arbeiten Opfer und Täter gemeinsam am Bau von Häusern für die Überlebenden des Genozids.  Man  müsse  auch  auf  die  Täter  zugehen,  sagt Dieudonné, ihnen eine Rolle und eine Zukunft aufzeigen.  „Wir  hier  und  ihr  da  –  eine  solche  Aus-grenzung darf nie wieder Macht ergreifen“.

  • Kann man von einem Menschen erwarten, den Mördern seiner Frau, seines Mannes, seiner Kinder die Hand zu reichen?  © Foto: Eric Vazzoler für Peace Counts

    Das  zentrale  Motto  von  AMI  lautet  „Ubuntu“.  Es  bedeutet   „Menschlichkeit“   in   der   ruandischen   Landessprache   Kinyarwanda.   Menschlichkeit   –   darum  geht  es:  Den  Kategorien  der  „Hutu“  und  „Tutsi“,  der  Unterscheidung  in  „Täter“  und  „Opfer“,  eine  versöhnende  Gemeinsamkeit  entgegen  zu  setzen.  Wie  sollen  die  Menschen  in  Ruanda  sonst wieder Tür an Tür leben, mit all dem Unausgesprochenen zwischen ihnen?

  • Dieudonné Munyankiko. © Foto: Eric Vazzoler für Peace Counts

    Ohne  Gerechtigkeit  kein  Frieden.  Ist  das  so?  Was,  wenn vollständige Gerechtigkeit nicht möglich ist? Dieudonné   Munyankiko   glaubt   folgendes:   „Wir   können in Ruanda entweder versuchen, Gerechtigkeit herzustellen und alles Unrecht, das geschehen ist,  zu  rächen.  Oder  wir  ertragen  die  Ungerechtig-eiten. Und schaffen gemeinsam eine Zukunft.“

Le Coordinateur de l'AMI disait sur les activités de l'AMI sur le terrain (YouTube)

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Was ist die „Peace Counts"-Ausstellung?

Frieden ist spannend, zeigt das  Projekt Peace Counts. Wie überwinden Menschen persönliche Grenzen, um auf ihre Feinde zuzugehen? Warum gelingt manchen Jugendlichen der Ausstieg aus bewaffneten, radikalen Gruppen? Wo treten Frauen für ein Ende der Gewalt ein? Was können Fußball, Radio, Tanz und Streit zum Frieden beitragen? Die Reportagen lenken den Blick auf kreative Lösungen und gelungene Kommunikation in Konflikten. Die Roll-up Ausstellung zeigt eine Auswahl der besten Reportagen erfolgreicher Projekte aus rund 30 Konfliktregionen der Welt.

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Workshop – jetzt auch online!

Bei Interesse bietet die Servicestelle begleitende friedenspädagogische Workshops an. Diese richten sich insbesondere an Schüler:innen und Lehrkräfte, können aber auch von weiteren interessierten Zielgruppen angefragt werden. Die Workshops finden entweder digital oder als Präsenzveranstaltung statt.  Basierend auf Lernen nach Vorbildern und Biographien wird das Engagement von Menschen aus Konfliktregionen rund um die Welt besprochen, die mit kreativen zivilen und gewaltfreien Methoden Frieden im Kleinen und Großen schaffen.

Was beinhaltet der Workshop`? Welche  technischen Voraussetzungen werden vorausgesetzt?  Wie kann man sich anmelden?

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